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Leseprobe - Doppelschicht

 

Kapitel 1

"Zwischen 16 und 19"

Wir lebten außerhalb von Hamburg, in einer Reihenhaussiedlung mit Vogelnamen als Straßenbezeichnungen. Die anderen Siedlungen hatten Baum- oder Blumennamen, Ahornstieg 4c und Rosenweg 33f und so.
Mein Vater erzählte am Abend vom Büro. Alle in der Abteilung hatten das gleiche Problem. Man war geschockt über die selbstverständlichen Erwartungen der Sprößlinge. Es war der Schock derer, die ganz andere Zeiten kannten. Wir, ihre Kinder, ahnten nicht einmal durch was diese Generation vor weniger als dreißig Jahren gegangen war. Und niemand von ihnen sagte uns, außer biographischen Stichworten, aus welchem Leben sie kamen. Sie, die uns gezeugt hatten und denen unser Leben fremd war und nicht verstanden, dass wir nicht verstanden.
Ich wollte ein Mofa.
"Wenn Du ein Mofa haben willst, dann kauf Dir eins. Von mir kriegst Du‘s nicht", sagte mein Vater. Das war in Ordnung und ein Wort, solange er es nicht ganz verbot.
"Raller" hatte schon ein Mofa und ließ mich, unter betteln, immer wieder ein paar Runden drehen. Er wohnte gegenüber eines Bauernhofes. Als Raller mal zum Hof rüberging, um Eier und Milch zu kaufen, zeigte der Bauer ihm ein Mofa, das auf einem Misthaufen aus Stroh und Hühnerkot lag.
"Fahren tut’s noch. Vierzich Maak, dann is’ das Ding wäch", sagte der Bauer.
Raller erzählte mir davon. Vierzig Mark hatte ich und ich erzählte es meinen Eltern. Nach bewegter Diskussion und letzter Klarstellung, "von uns gibt es keinen roten Heller ", gaben sie ihr Einverständnis.
"Von mir aus, in drei Teufels Namen, sieh zu", sagte mein Vater.
Meine Mutter murmelte, "fahr dich bloß nicht tot".
Raller holte mich ab. Als wir das Mofa, aus dem Misthaufen herausgezogen hatten und es vor mir stand, auf ölverschmierten strohverstopften Ständer, konnte ich sehen was wirklich los war. Der Gasgriff fehlte und der Bowdenzug kam bar aus dem Vergaser. Das Ende des Gaszuges war um den Lenker gewickelt. Das fahlgraue Schutzblech vorne war verrostet, verbogen und verbeult. Die Kette locker, das hintere Schutzblech hing an einer losen Schraube. Dazu einen unbrauchbaren Gepäckträger, eingehauenes Rücklicht und abgetrennte Kabelstränge. Die Birne vorne war auch im Eimer. Aus jeder Ritze lugte eine Daune oder ein Stück Stroh. Überall, versprenkelt wie Windpocken, weiße Flecken mit schwarzgrünen Punkten. Alles war schief und verdreckt, ansonsten stabil. "Zündapp" - gute harte deutsche Wertarbeit aus den anfänglichen 1960er Jahren. Wie ich den Papieren entnehmen konnte, war ich fünf Jahre alt als das Mofa gebaut wurde. Ich kaufte das Ding vom Misthaufen weg.
"Kriegst noch’n Liter Benzin", sagte der Bauer, der das Geld zählte.
Die Fahrt nach Hause war der Triumphritt des Easy Rider auf Sancho Pansas Esel. Um Gas zu geben, war der Gasbowdenzug, um die rechte Hand gewickelt. Ziehen, Schalten, Lenken mit wehendem Haar im Wind. Bremsen ging nicht so gut. Aber das störte mich nicht, in diesem perfekten Moment.
Die Eierfahrt endete vor unserem Reihenhaus. Meine Mutter öffnete entsetzt die Tür.
"Du lieber Gott, das ist ja ein Motorrad."
"Von mir gib’s nix", wiederholte sich mein Vater am Abend.
Die Kindheit war vorbei. So wie eine Schonzeit vorbei war.

Kapitel 2

"Zwischen Jetzt und Ewigkeit"

Dreißig Jahre. Vergangen. Einfach so. Und die Erinnerung an Manches, ist frisch wie die Stulle auf meinem Beifahrersitz als ich in der Morgendämmerung über die Elbchaussee zu Frau Krömer fahre. Sonntags kann ich ein wenig Gas geben, außer ein paar Bussen ist noch nichts unterwegs, das mich groß aufhalten könnte. Der Himmel ist durch und durch rot. Der Hafen in der Ferne, mit seinen Kränen, bildet eine tiefblaue Silhouette, während ich mit erhöhter Geschwindigkeit darauf zufahre. 

Es ist kurz vor sechs. Ich habe einen Schlüssel für das mehrstöckige Haus und werde pünklich um sechs an Frau Krömers Tür läuten und dann den Schlüssel benutzen. Klingeln tue ich nur, dass sie sich nicht erschreckt, wenn ein Mann plötzlich in ihrem Wohnungsflur steht. Frau Krömer ist gerade 100 geworden und der älteste Mensch, dem ich je in die Augen gesehen habe. Verglichen mit ihr, bin ich jung. Meine Großmutter war über Neunzig und auch sonst werden sie bei uns in der Familie alt. Aber Hundert ist schon eine andere Hausnummer. Sie will trotzdem nicht ins Altersheim.
Jeden Morgen helfe ich Frau Krömer beim Aufstehen, lasse sie ein paar Momente auf der Bettkannte verweilen, stütze sie vorsichtig, um sie sie dann mit einem sanften Schwung auf die Füße zu stellen. Sie wird wie jeden Morgen nach ihrem Stock fragen und ich werde sie wie jeden Morgen in das Bad begleiten, sie auf die Toilette setzen und die Badezimmertür schließen. Ich werde in der Zwischenzeit das Schlafzimmerfenster öffnen, lüften und das Bett aufschütteln. In der Küche werde ich Licht machen, ihr das Frühstück bereiten, eine Scheibe Brot mit Marmelade. Und den Kaffee in der Maschine aufsetzen. Ihre Medikamente für das Herz, lege ich neben den Frühstücksteller.
"Ich bin fertig", wird sie wie jeden Morgen durch die verschlossene Badezimmertür rufen, "sie können jetzt kommen".
Um 6 Uhr 11 öffne ich die Tür zum Bad, sie sitzt auf der Toilette in einem blass rosa Nachthemd vor elfenbeinernen Kacheln. Ich lasse kühles Wasser in das Waschbecken. Sie mag es so.
Ich helfe ihr von der Toilette auf und führe sie die zwei kleinen Schritte an das Waschbecken. Sie wäscht sich die Hände. Ich halte sie, nehme ein Handtuch von einem, auf eine Kachel gepfropften Plastikhaken und beginne ihr die rechte Hand abzutrocknen während sie sich mit der Linken am Waschbeckenrand festhält. Und dann umgekehrt, wenn ich ihr die linke Hand abtrockne. Tupfe vorsichtig, die hundertjährigen Hände, die nichts mehr richtig packen können. Ich lasse das Wasser aus dem Becken und frisches Wasser nach. Sie stützt sich mit einer Hand am Waschbecken während ich ihr langsam beginne das Nachthemd über den Kopf zu ziehen. Ihr verwelkter Körper steht gebeugt vor mir und ich beginne mit der Morgentoilette.
"Heute Nacht, habe ich ja wieder verrückte Sachen geträumt", sagt sie.
"Ja? Was denn? Darf ich fragen?"
"Ich habe von den ersten Radioempfängern geträumt."
"Ach so?"
"Wir hatten kein Radio aber die Nachbarn."
"Wann war das?"
"Och, so 1923. Die Radios waren so Kästen mit Detektor und Kristallsuchgerät."
"Ja, und dann?"
"Ich lag auf meinem Bett und lauschte mit dem Ohr an der Wand und hörte wie die Nachbarsfrau, versuchte den Sender einzustellen. ‘Wiiijuuh wiiijuhh’, machte es."
"Dann haben sie ja heute Nacht eine richtige Zeitreise gemacht."
"Das kann man wohl sagen … könnten sie mir noch ein wenig mehr den Rücken abtrocknen, bitte?"
"Na klar", ich tupfe nocheinmal nach, nehme dann die Lotion und beginne ihren Rücken einzucremen, sie hält sich weiter am Waschbecken fest. Eine gelbe Bluse hängt auf einem Bügel, ebenso ein mittelgrauer Rock. Die Unterwäsche liegt auf der Waschmaschine bereit. Auf dem Boden stehen beige Damenschuhe.
"Jedenfalls, sagte die Sprecherin zu jeder Morgensendung ein Gedicht auf."
"Ein Gedicht?"
"Das Lied von der NORAG."
"Kriegen sie das noch zusammen?"
"Guten Tag, hier ist die NORAG …"
Ihre brüchige Stimme immitiert den Klang einer Sprecherin im Radio. Wie aus weit vergangener Zeit, kommen ihre Worte herüber zu mir.
".. für Hintz und für Hektor
Guten Tag, hier ist die NORAG
Für jeden Detektor
Hier ist die NORAG
Für Jedermann
Der 2 Mark im Monat noch bezahlen kann
Hier ist die NORAG
Für Hintz und Kesel
Hier ist die NORAG
Für jeden Esel
Hier ist die NORAG
Für dich mein Kind, wenn wir beide ganz allein zu Hause sind."

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Stefan Birckmann
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